Spanien - finalmente
Auf seinem letzten Streckenabschnitt stößt der Camino del Norte ab dem galizischen Städtchen Arzúa auf den bekanntesten und beliebtesten spanischen Jakobsweg, den Camino francés. Arzúa liegt 39 km vor Santiago de Compostela und ist damit für die leistungsstarken oder auch ungeduldigen Pilger der letzte Etappenort. Da wir jedoch weder der ersten noch zweiten Kategorie angehören, lassen wir uns von hier ab noch zwei Tage à ca. 20 km bis Santiago Zeit. Ich bin sehr gespannt auf diese letzten zwei Tage, da wir schon so viel über die letzten 100 km des Camino francés gelesen haben. Um eine Pilgerbescheinigung (Compostela) in Santiago ausgestellt zu bekommen, müssen Fußpilger wenigstens die letzten 100 km Fußmarsch auf einem Camino belegen können. Radpilger die doppelte Strecke.
Das Pilgerbüro in Santiago de Compostela führt Langzeitstatistiken über die Anzahl der in Santiago ankommenden Pilger. In 2019 waren das insgesamt etwas über 327.000 Fußpilger (95%) und knapp 20.000 Pilger hoch zu… Fahrrad (reitende Pilger gibt es auch, deren Anzahl ist aber im Vergleich zu diesen zwei stärksten Gruppen verschwindend gering). Davon liefen/radelten in 2019 knapp 190.000 Pilger den Camino francés, gefolgt von den portugiesischen Wegen (72.000 und 22.000). Die Caminos Primitivo und del Norte, die beide aus dem Camino de la Costa hervor gehen, wurden von „nur“ 15.000 bzw. 19.000 Menschen gewählt. (Quelle: https://oficinadelperegrino.com/en/statistics/ vom 2.10.2021)
Im Vergleich dazu: Im Jahr 1990 kamen über alle Pilgerwege zusammen gerade einmal knappe 5.000 Pilger in Santiago de Compostela an (Quelle:. https://jakobsweg-lebensweg.de/pilgerstatistik/) Was für eine Erfolgsgeschichte! Und was für eine Menschenmasse …und was für ein wirtschaftliches Potential.
Kurzum, wir erreichen Arzúa mit etwas gemischten Gefühlen aber auch mit Spannung. Uns fällt tatsächlich als erstes auf, dass es in dieser Stadt nur so von Pilgerherbergen wimmelt. Ganz anders, als wir es gewohnt waren. Mich hat es beim Vorbuchen schon gewundert, dass ich fast fünf Tage im Voraus buchen durfte und gleich bei der ersten Herberge Erfolg hatte… kein Wunder, das Verhältnis Pilger zu Herbergen hat sich umgedreht.
Gemäß Tipp aus unserem Reiseführer gönnen wir uns in Arzúa erst einmal eine kleine Stärkung in Form der galizischen Churros (kleine in Öl ausgebackene und in Zucker gewendete Teigstangen, die der echte Spanier vor dem Verzehr noch in heiße Schokolade tunkt). Die Dinger geben Kraft für mindestens weitere zwei Wochen Camino-wandern, aber egal… sind wirklich lecker.
Da unser heutiger Schlafsaal nichteinmal nur coronakonform besetzt war, werden wir morgens dieses Mal nicht vom Geraschel gepackter Rucksäcke geweckt und verschlafen prompt. Ist aber nicht so schlimm, wir haben ja nur knapp 20 km vor uns. Also wollen wir uns erstmal ein Frühstückslokal suchen. So spät, wie wir heute unterwegs sind (9:00 Uhr) wird auch bestimmt schon einiges geöffnet haben. Wir haben tatsächlich eine volle Auswahl an Bars nur leider das erste Mal eine andere Herausforderung: Konkurrenz von vielen ebenfalls nicht sehr früh erwachten weiteren Pilgern. Entsprechend voll sind die Frühstückslokale -wir müssen das erste Mal anstehen, um einen Tisch zu bekommen- und entsprechend unleidlich ist das Personal in dem Lokal. Schließlich wollen alle Pilger möglichst schnell bedient und abgefertigt werden – der Camino scheint nicht zu warten.
So also kann es in Spanien auch zugehen. Die Bedienung in der kleinen Bar tut mir echt leid. Wahrscheinlich ist sie die Besitzerin und Köchin, Bedienung und Servicekraft (desinfizieren von Tisch und Stühlen vor jedem weiteren Gast) in einem. Auch wenn sie es wollte – schnell geht hier gar nichts mehr – und gelassen leider auch nicht. Gäste sind genervt, sie gestresst. Ich frage mich, wo genau auf der Rute die Leute ihren Pilgergeist verloren haben?!
Als ich Björn das frage, erinnert er mich an gestern Abend. Wir kamen in unserer Herberge an und trafen an der kleinen Rezeption niemanden an. Nur ein leerer Stuhl, ein Schreibtisch, ein weiterer wartender Pilger und eine Notiz auf Spanisch. „estaté justo detras“ samt Telefonnummer.
Der Wartende war ein gemütlicher Däne. Er warte hier schon 10 Minuten, aber auf der Nachricht würde ja stehen, dass gleich jemand kommen würde. Ich entscheide typisch deutsch: 10 Minuten sind eindeutig nicht „gleich“ sondern viel zu lang und wähle ohne weitere Zeit abwarten zu wollen die angegebene Telefonnummer!
Vorteil des Camino francés ist eindeutig, dass sich hier die Frequenz der Restaurants, Bars, Cafés vervielfacht. Verhungern und verdursten muss hier kein Pilger mehr auch das Herumschleppen von Proviant und Wasser kann sich hier jeder getrost ersparen. Wir haben auch ab jetzt kein Problem mehr, Stempel in das Pilgerbuch zu bekommen. Nicht nur die Restaurants etc. haben dafür extra Tische mit Stempel, Stempelkissen und Handdesinfektion aufgestellt, auch jede Kirche hat plötzlich geöffnet und stempelt im Akkord… gegen eine freiwillige Spende. Zu meiner Freude versammeln sich auch plötzlich sehr viele fahrende Händler mit ihren Waren am Rand des Caminos (auch gern in den Wäldern). Ich komme aus den „nur kurz gucken“, Stempel sammeln (vergeben die Händler auch gegen Spende) und Björn aus dem Augenrollen und Seufzen nicht mehr heraus. Egal, da muss er durch.
Nachteil des ganzen Trubels ist halt: Hier heißt es pilgern an der Perlenschnur und das ist nach dem beschaulichen Camino del Norte und de la Costa einfach nur ein Kulturschock.
Andererseits laufen hier auch sehr viel Menschen, denen ich 100 km auf den ersten Blick nicht zutrauen würde. Wir haben in den zwei Tagen sehr viele bekannte Gesichter immer wieder getroffen, die eindeutig die 65 überschritten hatten und langsam aber beharrlich ihren Camino gingen… in Strickjäckchen und auf zwei Pilgerstöcke gestützt aber immer mit einem Lächeln und freundlichen „Buen Camino“.
So kamen wir zu guter Letzt verfolgt von einer Truppe junger, spanischer, unüberhörbar stolzer Studenten in Santiago an. Der große, sonnengeflutete Platz vor der berühmten Kathedrale ist gefüllt mit glücklichen Pilgern, und wir werden bei unserem Betreten stürmisch beklatscht. Ach nein, halt, leider nicht… die Gruppe hinter uns feiert sich aufgewühlt selbst. Ist aber irgendwie nett anzuschauen. Die spanische Mentalität ist lebensfroher als die deutsche. Es taucht noch eine Gruppe spanischer Radpilger auf, alle über 60, die auf dem Platz von ihren Rädern springt, den Boden küsst und anschließend Arm in Arm im Kreis hüpft und singt. Waren die schon in der Weihrauchmesse?
Das weitere Prozedere ist dann etwas bürokratisch: online anmelden (5km vor Santiago war hierfür ein QR Code zum Scannen aufgestellt), Pilgerbürogelände (mit Maske!) betreten, mit online-Anmeldung eine Behördennummer ziehen (dieses Mal nicht digital, sondern konservativ als kleines Zettelchen) und in der Reihenfolge der Nummern an den Büros anstellen. Ist man an der Reihe werden Nationalität und Pilgerstempelpass geprüft, gegen eine Spende vom 3€ erhält man seine Compostela. Ein kleines Zertifikat als Bestätigung, dass man bis Santiago gepilgert ist und auf Wunsch auch ein größeres, das Startzeitpunkt und -Ort sowie die zurückgelegte Distanz aufführt. Positiv können wir heraus haben, dass der Nummernaufruf digital über eine App verfolgt werden kann. Theoretisch können Pilger also nach gezogener Nummer und bei einer geschätzten Wartezeit von 3 Stunden das Gelände verlassen und trotzdem die Abfertigung verfolgen. Praktisch aber gibt es leider eine kleine Zeitverzögerung zwischen tatsächlichem Aufruf und der Darstellung in der App… wir kamen erstaunlich früh an die Reihe, weil viele Nummern nicht zu ihrem Aufruf erschienen sind. Diese Pilger müssen sich dann erneut eine Nummer ziehen.
Wir verweilen zwei Tage in der Stadt und besichtigen natürlich auch die Kathedrale von innen. In einem heiligen Jahr wie 2021 soll auch die heilige Pforte geöffnet sein, die Pilger dann als Eingang nutzen dürfen.
Wir haben uns einfach an den einzigen nutzbaren Eingang angestellt. Bis jetzt habe ich noch nicht herausgefunden, ob es die heilige Pforte war… (??)